In der Eingangshalle steht auf einem Tisch ein seltsames Bauwerk, von dem man den Eindruck hat, es sei das Ergebnis eines Architektenwettbewerbs. Ein schwergewichtiges Teil, mindestens zehn Kilo, von den Proportionen ausgewogen, mit fröhlichen Farben. Die Symbole auf den Spitzen der drei Türme sind sofort erkennbar: Davidsstern, Halbmond und Kreuz. Es ist ein Gotteshaus, eine gemeinsame Kirche der drei großen monotheistischen Religionen, ein Gebäude mit drei Eingängen. Jede Religion hat hier ihre Berechtigung und ihre Möglichkeiten.
Dem eigenen Gottesdienst steht nichts im Wege, aber die Chance zum „Trialog“ ist unübersehbar und soll offensichtlich genutzt werden. Lessings Drama „Nathan der Weise“, vor einiger Zeit in der Schule aufgeführt, hat gewirkt! Haydar Avci, der Schülersprecher des GAM, der den Tag der Kulturen am 20. Juli ganz maßgeblich geplant und organisiert hat, und ein Team interessierter Schüler haben dieses „Haus des Glaubens und der Begegnung“ entworfen und in einigen Stunden kreativer Arbeit fertig und ganz bewusst in die Eingangshalle gestellt. Daran kommt man eigentlich nicht vorbei und muss sich damit auseinandersetzen.
Eigentlich war er schon überfällig, der „Tag der Kulturen“, denn am Gymnasium Auf der Morgenröthe gibt es mittlerweile Schülerinnen und Schüler, die direkt oder indirekt mehr als dreißig unterschiedliche Kulturen vertreten, weil sie selbst bzw. die Eltern oder Großeltern, die oft schon Schüler des Gymnasiums waren, ihre Wurzeln in einem anderen Land haben. Man kannte und kennt sich, aber es wurde langsam Zeit, die Informationen über das bisher eher Fremde wirklich und intensiv zu vertiefen, denn was weiß man wirklich über den Iran, Afghanistan, Vietnam, Schottland, Sri Lanka oder Japan?
Das Interesse an einem derart arbeitsintensiven Projekt – kurz vor den Ferien! – musste erst geweckt werden und wurde durch unterschiedliche Gruppen und Gremien massiv unterstützt: die Antirassismus AG, den Arbeitskreis Leseförderung, die SV und schließlich das Lehrerkollegium insgesamt. Konnte man das wirklich bewältigen, einen Tag der Kulturen mit Vormittags- und Abendprogramm auf die Beine zu stellen? Skepsis war zu spüren, aber dann, nachdem die Planung immer konkreter wurde, war die Begeisterung kaum mehr zu bremsen.
Nach einer relativ kurzen, aber intensiven Vorlaufzeit, bei der das Grundkonzept für die Gruppen erarbeitet wurde und einer organisatorischen Meisterleistung der beiden Planer Haydar Avci und Josef Wernze trafen sich die „Ländergruppen“ mit den jeweiligen Betreuern in ihren Räumen, um den folgenden „Tag der Kulturen“ entsprechend vorzubereiten. Das Ergebnis ließ sich dann am nächsten Tag sehen und bewundern, denn die Besucher hatten in den meisten Fällen den Eindruck, sie betreten eine andere Welt. Da jede Gruppe in drei „Schichten“ eingeteilt wurde, hatte jeder die Aufgabe, Besucher des eigenen „Landes“ zu informieren, zu betreuen und mit landeseigenen Köstlichkeiten zu versorgen, aber auch genügend Zeit, eine andere Kultur kennen zu lernen und entsprechende kulinarische Besonderheiten zu genießen. Da lief eine kasachische Bauersfrau im Festgewand durch die Gänge, man begegnete einer verschleierten Iranerin oder einem afghanischen Bürger in einheimischer Kleidung. Für alle war dieses umfassende Projekt nicht nur ein rundum gelungenes Experiment, sondern ein Erlebnis der besonderen Art, das geradezu nach einer Wiederholung ruft – so oder so ähnlich.
Die Abendveranstaltung bildete dann den Höhepunkt kultureller Begegnung und Vielfalt. Viele Gruppen hatten die Präsentationen des Vormittags in der Eingangshalle und dem Vorraum der Aula aufgebaut, um den abendlichen Besuchern einen informativen Blick auf die kulturelle Vielfalt der Schule zu bieten, wozu auch das Angebot entsprechender kulinarischer Köstlichkeiten gehörte.
Der ‚Arbeitskreis Leseförderung‘, ein Zusammenschluss von Eltern, Schülern und Lehrern, der seit vielen Jahren nicht nur die Bibliothek betreut und unterstützt, sondern viele Aktionen „rund um das Lesen“ organisiert, hatte den bekannten Kölner Autor Selim Özdogan zu einer Lesung gewinnen können. Der 1971 in Adana/ Türkei geborene Özdogan, der mit wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und seit 1995 Romane, Erzählungen und Gedichte veröffentlicht, las aus seinem aktuellen Roman „Heimstraße 52“, dem zweiten Band einer Trilogie (nach „Die Tochter des Schmieds“), der in einer unglaublich poetischen Sprache das Leben der Protagonistin Gül erzählt, die Anfang der Siebzigerjahre ihrem Mann nach Deutschland folgt, um hier zu arbeiten und zu Erfolg zu kommen. Gül sieht sich zunehmend zwischen zwei sehr unterschiedlichen Welten, dem Wirtschaftswunderland Bundesrepublik und ihrer türkischen Heimat, und zerbricht fast an der Suche nach ihrer Identität. Selim Özdogan möchte nicht an dem vorbereiteten Tisch lesen, sondern baut auf seine ganz eigene Weise einen Kontakt mit dem Publikum auf. Barfuß und im T-Shirt setzt er sich in der Aula auf die Kante der Bühne, stellt kurz sein Selbstverständnis als Schriftsteller vor, erläutert, warum er bestimmte Stellen aus seinem Roman ausgewählt hat und beginnt die Zuhörer mit seiner Stimme zu verzaubern, denn so erleben es die meisten, applaudieren, können gar nicht genug bekommen. Als das anschließende Gespräch mit diesem außergewöhnlichen Autor in Gang kommt, wird es immer intensiver, auch persönlich, auch offen, deshalb umso interessanter. Der Abstand zwischen Gast und Publikum schmilzt, aus Interesse wird zunehmend eine eher stille ehrliche Bewunderung und Begeisterung, die sich auch darin ausdrückt, dass viele Besucher die ausgelegten Bücher kaufen, die der Autor unter der Bedingung signiert, dass auch der zukünftige Leser ihm etwas in sein Autogrammbuch schreibt. Özdogan, der auch mal eine Schreibwerkstatt für Jugendliche anbietet, verabschiedet sich. Das wäre doch eine Möglichkeit, ihn noch einmal an die Schule zu holen!
Nachdenklich berührt geht man in die Pause, kommt aber auch hier schnell ins Gespräch miteinander und genießt einen türkischen Apfeltee, eine der angebotenen Köstlichkeiten aus Peru oder schaut sich nun intensiver die Ausstellung zum Tag der Kulturen an. Besondere Gäste sind Beate Schmies, die Studioleiterin des WDR in Siegen und Patin der Antirassismus-AG und Siegens Bürgermeister Steffen Mues, der es sich nicht nehmen lässt, nach einer anstrengenden Sitzung noch den Weg auf die Morgenröthe einzuschlagen!
Das letzte Highlight des Abends verspricht einen Genuss für Augen und Ohren, denn die vier Tänzerinnen von „Ritmo Flamenco“, der Flamencogruppe vom Förderverein der spanisch sprechenden katholischen Gemeinde Siegens und Umgebung, die seit 1998 besteht und von Carlos Lopez Bezosa trainiert wird, tanzen in ihren wunderschönen Kostümen Rumbas und Sevillanas, die zu den klassischen Formen des Flamencos gehören.
Kaum jemand hätte gedacht, dass ein Tag der Kulturen ein solch intensives Erlebnis sein kann, das noch lange in Erinnerung bleibt und seine Wirkung entfalten wird.
Gerade das Richtige, um in die Ferien zu gehen, wo man ja in der Regel auch Bekanntschaft mit anderen Kulturen macht!
F. Klein – GAM / 25.7.2011